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Am 5. März 2018 ersetzt und archiviert.

 

 

Das Phänomen Russenkinder

I. Begriffsbestimmung

II. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941 - 1945

1. Zur Planung, Führung und den Auswirkungen des Krieges

2. Zur Situation gegen Ende des Krieges

III. Die Russenkinder kommen

1. Die Zeit nach dem Krieg

2. Einige Aspekte der folgenden Entwicklung in Ostdeutschland

3. Eigene Erfahrungen

4. Noch ein paar Punkte

IV. Resümee

 

Anfangs ein paar Bemerkungen. Das Thema weckt bei den Betroffenen und bei den Älteren viele Emotionen. Hier geht es einfach darum, kurz die Entwicklungen zu beschreiben, die zu diesem Phänomen „Russenkinder“ und den Folgen führten.

Es ist zu verstehen, wenn es kontroverse Auffassungen gibt, im Grunde genommen kann es auch gar nicht anders sein. Jeder betrachtet die Entwicklung aus seiner Sicht, meist aus subjektiver.

Hier wird versucht, mit etwas Abstand an das Thema heranzugehen, die verschiedenen Aspekte deutlich zu machen. Einseitige Sichten führen zu Schuldzuweisungen, die nicht aufklären, schon gar nicht zur Versöhnung beitragen.

Deshalb die Bitte an die Leser, schreiben Sie uns Ihre Kritik. Schreiben Sie uns Hinweise auf Unrichtigkeiten, Fehlendes. Wir sind bemüht, zur Aufklärung beizutragen.

 

I. Begriffsbestimmung

Bei dem Wort Russenkinder geht man davon aus, dass die Eltern Russen sind. Hier wird der Begriff in weiterem Umfang gesehen.

 

Begriffliche Einordnung

Besatzungskinder sind Kinder, die von Militärangehörigen von Besatzungsarmeen und einheimischen Frauen gezeugt worden sind.

Die Russenkinder, von denen hier die Rede ist, bilden eine Untermenge der Besatzungskinder, nämlich als Kinder von Vätern der Angehörigen der Roten, später der Sowjetarmee. Entstanden von unmittelbar nach den Kampfhandlungen zum Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts, als diese Truppen wieder abzogen.

Die Aufteilung Deutschlands auf der Konferenz von Jalta Anfang 1945 brachte es mit sich, dass Deutschland in zwei Teile gespalten wurde. Sie entwickelten sich in unterschiedliche gesellschaftliche Systeme, die auch die Lebensumstände der Russenkinder in Westdeutschland, später der Bundesrepublik, und in Ostdeutschland, später DDR, beeinflußten. Die Systemnähe Ostdeutschlands zur Sowjetunion brachte den Russenkindern in der DDR günstigere Entwicklungsmöglichkeiten.

Und noch eine Vorbemerkung

Als Kriegskinder bezeichnet man die Kinder, die während eines Krieges geboren wurden. Man geht davon aus, dass durch diese Umstände psychische und körperliche Schäden zugefügt wurden. In letzter Zeit ist die nachfolgende Generation der Kriegskinder des 2. Weltkrieges, also die der Kriegsenkel, ins Bild der Öffentlichkeit gerückt. Bei einer Veranstaltung von Kriegsenkeln stellte der Autor fest, dass sein deutscher Großvater im 1. Weltkrieg an der Westfront als Soldat eingesetzt war. Das bedeutet, dass die älteren Besatzungskinder ebenfalls Kriegsenkel sind.

 

Aspekte für die Herkunft der Eltern

1. Beginnen wir mit der Ansiedlung von Deutschen in Russland im 18. Jahrhundert. Peter der Große holte Menschen aus Europa ins Land, welche Russland modernisieren sollten. Aus Deutschland kamen Bauern, Händler, Handwerker, Tagelöhner, Glücksritter und andere.

2. Nach der Oktoberrevolution 1917 emigrierten viele der wohlhabenderen Russen nach Westeuropa. So entstanden vor allem in Paris und Berlin russische Zentren.

Ein sprachliches Indiz dafür war in Berlin der Begriff Charlottengrad für den Stadtbezirk Charlottenburg.

3. In der Nazizeit emigrierten deutsche Antifaschisten vor allem in die Sowjetunion. Die Schicksale dieser Emigranten sind zum großen Teil tragisch.

Stalin vertraute niemanden und so sind viele nach Sibirien verschleppt, nach Deutschland in die Hände ihrer Häscher übergeben oder gar erschossen worden. Die hatten Kinder, die in gesonderten Schulen interniert wurden.

4. Zu Beginn des Krieges ließ Stalin die Deutschen, die seit zwei Jahrhunderten im wesentlichen an der südlichen Wolga sesshaft waren, zwangsweise nach Sibirien und Kasachstan umsiedeln. Das war eine Tragödie mit vielen schweren Schicksalen.

5. Die Sowjetunion bestand aus 15 Republiken. In der Roten Armee, die gegen die deutschen, aber auch an ihrer Seite kämpfenden italienischen, rumänischen, finnischen, spanischen, holländischen, lettischen und aus weiteren Ländern stammenden Invasoren kämpften, dienten Männer und Frauen aus all diesen Republiken. Also Russen, Ukrainer, Bjelorussen, Kirgisen, Kasachen, Usbeken, Aserbeidschaner, Armenier, Grusinier, aus den baltischen Republiken und allen anderen. Ebenso gab es weitere Völkerschaften, die autonome Gebiete hatten oder einfach im Lande lebten. Darunter sind zum Beispiel Koreaner, Uiguren, Mongolen, Griechen, Iraner, Nenzen, Juden usw. zu verstehen. Man kann dabei von über 200 Völkerschaften ausgehen.

6. In der Roten Armee und mit ihr kämpften außerdem noch eine polnische Armee, eine französische Kampfeinheit und Angehörige überfallener Länder wie Tschechen, Polen, Ungarn und weiterer.

Alle hier erwähnten und selbstverständlich weitere bildeten die Vorfahren und Elternteile, gewissermaßen das genetische Material, für den Begriff "Russenkinder".

Nachdem wir die Elternteile betrachtet haben, noch eine kurze Bemerkung zum Terminus, der natürlich wie die gesamte Sprache, Wandlungen unterlag.

War es früher nur ein Bezug auf die Herkunft, Sprache oder Elternteile, bekam das Wort in Deutschland durch die Nazis eine besondere Bedeutung. Russen – das waren bolschewistische Untermenschen, lebensunwert.

Und wenn heute dieser Begriff noch mit leicht pejorativem Unterton gebraucht wird, ist es im Grunde genommen das Fortwirken dieser Ideologie. Sie stirbt aus, nicht, weil sie überwunden wurde, sondern weil die Träger, die Alten, wegsterben. Und die Jüngeren haben das nicht erlebt, sind also damit nicht aufgewachsen.

 

II. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941 - 1945

1. Zur Planung, Führung und den Auswirkungen des Krieges

Im Sommer 1940 befahl Hitler die Ausarbeitung des Planes „Barbarossa“ - Überfall und Besetzung der Sowjetunion. Schon die Planung war auf das ausgerichtet, was er 1925 in sein Buch „Mein Kampf“ hineinschrieb – nämlich, dass es sich dabei um einen Rassenvernichtungskrieg handeln wird.

In Stichworten:

- dieser Kampf wird sich sehr unterscheiden zu dem im Westen

- es gelte vom Standpunkt des soldatischen Kameradentums abzurücken

- die bolschewistischen Kommissare und die kommunistische Intelligenz sind zu vernichten

- die gesamte Wehrmacht ist im 3. Kriegsjahr (also ab 1942) aus Russland zu ernähren. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn das Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.

- Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, wurde der Verfolgungszwang aufgehoben.“

Am 22. Juni 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion. Für Russenkinder ein denkwürdiger Tag.

Insgesamt gerieten etwa 70 Millionen Menschen in den baltischen, weißrussischen, ukrainischen und russischen Gebieten unter die deutsche Besatzung. Es waren vor allem Frauen, Kinder und Alte. Die Waffenfähigen kämpften in der Armee. Juden wurden systematisch ausgeraubt und ermordet. Ebenso Roma, psychisch Kranke.

Etwa eine halbe Million Menschen kam bei der Bekämpfung von Partisanen ums Leben. Das Land wurde systematisch und rücksichtslos ausgeplündert und zerstört. Selbst bei ihren Rückzügen wurden noch Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübt.

Es kam zu Hungersnöten. Millionen mussten für die Besatzungsmacht zwangsarbeiten.

Das größte Kriegsverbrechen verübten die Deutschen gemeinsam mit der finnischen Armee durch die Blockade der Stadt Leningrad. Sie sollte nicht eingenommen, sondern ausgehungert werden. Dem fielen ca. 800 000 Zivilisten zum Opfer.

Frauen bildeten die Mehrheit der Erwachsenen in den besetzten Gebieten. Die Begegnungen mit den Deutschen verliefen unterschiedlich - vielfache sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, mit teilweise brutaler Ermordung der Opfer. Ebenso existenzsichernde Prostitution und freiwillige Beziehungen.

Es wird davon ausgegangen, dass zwischen einer und anderthalb Millionen Kinder von deutschen Soldaten und sowjetischen Frauen gezeugt und geboren wurden.

Die sowjetischen Menschen brachten große Opfer. Es starben ca. 14 Millionen Zivilisten und 13 Millionen Soldaten.

Und so haben die sowjetischen Soldaten, die den Krieg lebend beenden konnten, einerseits ihr Pflicht erfüllt und ihr Vaterland mit der Waffe in der Hand verteidigt, und andererseits ein mörderisches Regime besiegt und zerschlagen.

 

2. Zur Situation gegen Ende des Krieges

Alles mit Russland zusammenhängende wurde in Deutschland also als das Letzte angesehen. Es war kein Schimpfwort im üblichen Sinne, es war ein Urteil. Man muß sich vor Augen halten, dass diese ideologische Beeinflussung über fast acht Jahre intensiv durch die Medien vorgetragen wurde. Die Kriegsberichterstattung über die Ostfront wurde mit heldenhaften deutschen Kämpfern und unfähigen russisch-asiatischen feigen Horden unterlegt.

So setzte sich dieses Gedankengut in den Köpfen fest. Und je näher der Krieg an Deutschland heranrückte, desto intensiver wurde die Propaganda betrieben.

Die Neuaufteilung Deutschlands erfolgte auf der Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945 durch die drei Großmächte.

Das Ende des Krieges kam in Deutschland im strengen Winter 1944/45 zuerst nach Ostpreußen, ebenso nach Schlesien, welche nach der Neuordnung Polen zugeschlagen worden waren. Die Naziführung verhinderte zunächst massiv eine rechtzeitige Evakuierung der eigenen Zivilbevölkerung. In Posen wurde noch im Januar 1945 der Befehl gegeben: „Halten oder Sterben!“. In Königsberg wurde noch am 30. Januar 45 die Evakuierung verboten.

Jegliche Angebote zur Kapitulation wurden abgelehnt. So kosteten die letzten Monate und Tage des Krieges noch viele Opfer.

Auf die Zivilbevölkerung wurde keinerlei Rücksicht genommen. Auch sie wurde sinnlos geopfert.

Erst als die sowjetischen Truppen unmittelbar vor den Toren standen, begann man mit Evakuierungen. Unzureichend vorbereitet, unter denkbar ungünstigen Umständen. Tausende starben auf der Flucht, erfroren, verhungerten, brachen bei der Flucht über die Ostsee ins Eis ein.

 

III. Die Russenkinder kommen

1. Die Zeit nach dem Krieg

Die Angehörigen der Roten Armee standen unter dem Einfluss der Kriegsverbrechen, welche die Deutschen in der Sowjetunion begangen hatten. Das waren Terror, Geiselnahme und Erschießungen, Ausplünderung der Wirtschaft und Ressourcen, der Landwirtschaft, willkürliche Erschießungen, Zerstörung von Dörfern und Städten, der gesamten Infrastruktur, Verschleppung nach Deutschland zur Zwangsarbeit, Massenevakuierungen, die Kampftaktik der verbrannten Erde, also der vollständigen Zerstörung der Lebensgrundlagen. Es wurde ein unvorstellbares Elend bewusst herbeigeführt.

Ebenso dürfen wir in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Rote Armee die Vernichtungslager der Nazis im Osten befreite. Treblinka, Sobibor, Majdanek und schließlich Auschwitz. Dort wurden 7.000 Häftlinge befreit, von den Deutschen vorher über eine Million umgebracht.

Die sowjetische Propaganda arbeitete selbstverständlich an der Motivierung der sowjetischen Bevölkerung zum Kampf gegen die Deutschen. Jedem Sowjetmenschen war klar, dass er von den Deutschen nur Tod und Zerstörung zu erwarten hatte.

Und so hatte es sich im Bewusstsein der sowjetischen Menschen festgesetzt, dass man im Kampf gegen die Deutschen seine ganze Kraft einsetzen muß.

Dabei wurde natürlich differenziert herangegangen. Es gab gute Deutsche, die an der Seite der Sowjetunion gegen die Deutschen kämpften und es gab die Hitlerleute, die gegen die Sowjetunion kämpften. Propaganda ist Propaganda, da legt man Wert auf die Richtung, nicht auf Sachlichkeit.

Dazu kommt, dass die Soldaten und Offiziere der Roten Armee junge Burschen waren, die keine friedvolle Jugend hatten, sondern von der Gewalt des Krieges gezeichnet waren. Der Krieg dauerte für sie zu diesem Zeitpunkt schon dreieinhalb Jahre.

Die sowjetische Führung erkannte, dass man mit Vergewaltigungen der Frauen, mit Plünderungen und weiteren Untaten die Bevölkerung der nunmehr seinem Machtbereich zugesprochenen Gebiete nicht gewinnen konnte. Also wurde dieses Verhalten bei Strafe, die gewöhnlich mit langen Verbannungen in Sibirien belegt wurde, verboten.

So kam es bei der Besetzung deutscher Gebiete zur Verfolgung von Naziverbrechern; sie wurden gesucht, verhaftet und verurteilt.

Ebenso kam es zu Gewalttaten - Erschießungen, Plünderungen, Vergewaltigungen.

Deutsche in den Ostgebieten wurden in Lagern gesammelt, die erst 1947 aufgelöst wurden. Nach und nach wurden die Deutschen aus den Ostgebieten westwärts hinter die Oder auf deutsches Gebiet geschafft. Viele fuhren weiter nach Westdeutschland.

Das gleiche Schicksal ereilte auch die Schlesier und Sudetendeutschen.

Die sowjetische Armee besetzte Ostdeutschland. Wurden anfangs die oben erwähnten Erscheinungen noch toleriert, ging die militärische Führung rasch streng dagegen vor.

Sie erließ Befehle, die bei Plünderungen und Vergewaltigungen mit Militärgericht oder unmittelbarer Erschießung drohten.

 

Aufnahme aus dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst Foto – der Autor

Die Offiziere unternahmen große Anstrengungen, das durchzusetzen, schafften es aber erst nach und nach.

Wir sehen, diese Gewalt war nicht systematisch durch die sowjetische Führung organisiert, sondern entlud sich spontan.

Und selbstverständlich waren die Vergewaltiger eine Minderheit. Der größte Teil der Armeeangehörigen beteiligte sich nicht daran.

Die kriegerischen Handlungen waren beendet, das Leben ging weiter, man mußte sich darauf einrichten. Zu essen gab es wenig bis gar nichts.

Die jungen Leute hatten den Krieg überlebt, wollten ihr Leben gestalten.

Was also tun? Da waren junge Frauen, auf der anderen Seite waren junge Männer. Die deutschen jungen Männer waren gefallen, saßen in Kriegsgefangenenlagern.

Und so kam es zu Liebschaften – aus Liebe, aus Lebenshunger, aus Hunger, aus Abenteuerlust.

Kriegskinder wurden geboren, Russenkinder wurden geboren – in Westdeutschland normalerweise durch umgesiedelte Frauen.

In Ostdeutschland durch Einheimische und natürlich ebenso durch umgesiedelte Frauen.

Außerdem gab es massenweise Abtreibungen.

Einher ging eine Einschränkung der Möglichkeiten der Begegnungen zwischen Deutschen und den Angehöriger der Roten Armee. Die Soldaten wurden mehr und mehr kaserniert, Kontakte zur deutschen Bevölkerung eingeschränkt.

Die Russenkinder wurden anfänglich in ein völliges Chaos hineingeboren. Langsam ordnete sich das Leben.

 

Das Aufeinandertreffen der Ideologien brachte die Frauen, die Männer und schließlich diese Kinder in Probleme.

Die Frauen fühlten sich zum größten Teile schuldig. Ihre deutschen Männer, wenn sie aus der Gefangenschaft zurückkehrten, wollten diese Kinder nicht. Sie lehnten sie ab, forderten und organisierten die Weggabe der Kinder, sie wurden zur Adoption freigegeben, zu Verwandten gebracht, in Heime gegeben. All das brachte natürlich keine Besserungen, sondern im Gegenteil, es verlagerte die Probleme in die Zukunft. Es wurde in diesem Zusammenhang gelogen, verdreht, vertuscht.

Natürlich muß hier die Frage aufgeworfen werden, was die Kinder dafür konnten – nichts. Sie mussten das Dilemma in ihrer Mehrheit ausbaden.

Und noch eine Frage in diesem Zusammenhang – Die Vergewaltiger waren das eine, der Umgang der deutschen Bevölkerung mit diesen Kindern und Frauen das andere.

Man konnte mit dem Finger auf die Täter zeigen, zu einem menschlich vernünftigem Umgang mit den betroffenen Frauen und Kindern konnte man sich nicht entschließen. Auch das ein Grund für das lange Fortdauern der Schicksale.

 

2. Einige Aspekte der folgenden Entwicklung in Ostdeutschland

Die DDR wurde gegründet. Der Beginn des friedlichen Aufbaus in Ostdeutschland brachte auch eine Veränderung in den Beziehungen zwischen den deutschen Frauen und den sowjetischen Militärangehörigen.

Junge Menschen lernten sich kennen, die Bedingungen waren bei Militärangehörigen mit Gegebenheiten gebunden.

Möglichkeiten der Begegnung ergaben sich aus der Zusammenarbeit mit den ostdeutschen Behörden, Firmen, Sportclubs, Freundschaftstreffen, kulturellen Veranstaltungen, Hilfen in Betrieben, bei Unglücken und Katastrophen, Ernte und Unwettereinsätzen und was sonst noch gewesen sein mag.

Die gelegentlich zu hörenden Sätze wie Kontaktverbot zwischen sowjetischen Menschen generell und Ostdeutschen gehört zu den Nachwirkungen des Kalten Krieges, der auf beiden Seiten Klischees hervorbrachte. So dieses auf der Westseite.

Natürlich gab es Kontaktverbote, aber nur für ausgewählte Personen. Auch das ist normal und wird weltweit gehandhabt.

In diesem Zusammenhang muß noch auf einen besonderen Umstand aufmerksam gemacht werden. In Westberlin gab es ein Auffanglager in Marienfelde, in dem alle Flüchtlinge aus dem Osten registriert wurden. Die westlichen Geheimdienste fragten die Ankömmlinge aus. Und wer eine günstige Gelegenheit bot, für den Westen im Osten zu spionieren, wurde bearbeitet und bei Einverständnis zurückgeschickt. Zu solchen Gelegenheiten gehörte die „Annäherung“ an sowjetische Militärangehörige, sprich die Ausforschung militärischer Geheimnisse. Auch das ist eine Möglichkeit für die Herkunft von Russenkindern.

Die Sowjetunion wurde zum Bruderland. Partei, Regierung und Organisationen brachten neben den ideologischen Aspekten wie Aufbau des Sozialismus, Organisation des Staates und weiteres, ebenso die kulturellen, menschlichen, wissenschaftlichen Werte der Völker der Sowjetunion nach Deutschland. Puschkin, Tschaikowsky, Lomonossow, Turgenjew, Repin, Gorki, Schostakowitsch ... Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Das brachte einen Wandel im Denken. Tourismus wurde aufgebaut. Man konnte Moskau, Leningrad, die alten zentralasiatischen Städte Buchara, Samarkand besuchen.

Der Autor dieser Zeilen fuhr das erste Mal mit Anfang 20 1967 nach Moskau und Leningrad, später in die baltischen Republiken und wieder nach Moskau. Was man übrigens jedem empfehlen kann.

In der DDR gab es eine Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Da wurde man mehr oder weniger, wenn man denn nicht so wollte, manchmal auch mit sanftem Druck, Mitglied. Es wurden Freundschaftstreffen organisiert, bei denen man Bewohner der Sowjetunion traf und kennenlernen konnte.

Die Sowjetunion nahm Studenten aus den sozialistischen Ländern auf. Sie studierten in Moskau, Leningrad, Kasan, Wolgograd und Akademgorodok bei Nowosibirsk und anderen wissenschaftlichen und universitären Einrichtungen. Dabei ging es nicht nur um die russische Sprache, auch Mediziner, Ingenieure, Physiker, Mathematiker, Weltraumspezialisten und andere Berufe wurden dort ausgebildet.

Die sozialistischen Länder bildeten Organisationen heraus -Comecon (RgW-Wirtschaft), Warschauer Vertrag (Militärbündnis) etc. Gemeinsame Übungen des Militärs fanden statt.

Betriebe führten Erfahrungsaustausch mit sowjetischen und anderen Firmen im RGW durch.

Es gab also genügend Gelegenheiten, die Menschen in der Sowjetunion kennenzulernen.

Die Menschen in der DDR nahmen also die „Russen“ nicht mehr als Untermenschen wahr. Man entdeckte die große slawische Seele, die Menschlichkeit, das Zusammengehörigkeitsgefühl der östlichen Völker.

Russenkind – das war kein Schimpfwort mehr.

Selbstverständlich gab es auch weiteres Beharren auf der Naziideologie, nur noch versteckt in Familien, von Alten.

Bei der Bewältigung des „Fehltritts“ gab es Vergessen und Verdrängen, man richtete sich auf ein neues Leben ein. Heiratete wieder, es gab neue Geschwister.

Andererseits gab es bei betroffenen Frauen Schuldgefühle, die sie nie mehr im Leben ablegen konnten. Und so wie die Eltern ihre Vorstellungen, Denk- und Handelsweisen bewusst und unbewusst auf ihre Kinder übertragen, so erfolgte es selbstverständlich auch hier.

So kam es, dass die Russenkinder im Osten im wesentlichen ein einfaches Leben hatten. Selbstverständlich gab es regionale Unterschiede. In der Provinz, wo jeder jeden kennt, blieb man ein Russenkind. Deutsche Provinz ist so.

Diskriminierungen wegen der Herkunft in Fragen der Bildung, der Entwicklung, des Berufes – ist kein Beispiel bekannt.

In Familien gab es weiter Tragödien. Schuldzuweisungen an Einzelne, Vorwürfe, Benachteiligungen – alles das gab es , aber nicht im Großen.

Wenn man sich mit der Staatsmacht angelegt hatte, unbewusst oder bewusst herbeigeführt, konnte es ungemütlich werden. Es war nur eine kleine Minderheit, die das tat. Und so gerieten natürlich ebenfalls Russenkinder ins Getriebe. Hier ging es nicht so sehr um die Herkunft, sondern die Art und Weise, wie man damit umging. Es gab einzelne schlimme Schicksale.

Die DDR hatte kein Interesse daran, diese Leute zu kujonieren. Sie hatten einen Vater aus der Sowjetunion, also dem Vorbild, dem großen Bruder.

Im Grunde genommen wurde das Problem in der DDR nicht angesprochen, wie auch andere, zum Beispiel die Umsiedler aus den ehemaligen Ostgebieten.

Es war wie ein neuer Anfang. Jeder war gleichgestellt, hatte die gleichen Chancen, erfuhr durch die Herkunft keine Diskriminierung.

So weit zu übersehen, gab es nur sporadische Nachfragen nach dem sowjetischen Erzeuger. Die Reaktion der sowjetischen Behörden war ja vorher klar - Schweigen - warum sollte man das auf sich nehmen.

 

3. Eigene Erfahrungen

Nun wird es schwierig, prinzipiell über das Problem zu schreiben. Deshalb möchte der Autor hier exemplarisch seine Erfahrungen berichten. Natürlich sind ihm Russenkinder begegnet, alle Geschichten verliefen anders. Wobei ich keinen getroffen hatte, den dieser Umstand in Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit getrieben hatte. Wir hatten die Möglichkeiten zu Ausbildung, eigener Familie, kurz gesagt zu einer den gesellschaftlichen Umständen entsprechenden freien Entwicklung genutzt.

Man kann die Geschichte ausführlich auf unseren Seiten nachlesen – ich entstamme einer Liebesbeziehung.

Ich hatte zu DDR-Zeiten zweimal versucht, nach meinem Vater zu fragen. Beide Male erhielt ich keine Antwort.

Nach dem Fall der Mauer Anfang der 90-er Jahre öffneten die russischen Archive ihre Bestände.

Die ersten Betroffenen machten sich auf den Weg. Und nach und nach bekamen immer mehr eine Antwort auf die Frage nach dem Vater. Es waren die Interessierten, Aufgeweckten, die aktiv sich mit dem Leben Auseinandersetzenden.

Ich selbst kam1996 auf diese Idee. In Vorbereitung meines 50. Geburtstages fragte ich mich, was ich noch im Leben erreichen möchte.

Der Weg, mit etwas Glück den Vater zu finden, geht folgendermaßen:

Man schreibt dem russischen Militärarchiv in Podolsk bei Moskau die Informationen, die man über den Vater hat – in Russisch.

Dann wartet man auf eine Antwort, die sehr lange dauern kann. Man bekommt im Falle, dass der Vater eruiert werden konnte, die Adresse des Ausscheidens aus der Reserve. Bei mir war es das Jahr 1969. Also schon eine sehr alte Angabe. Danach beginnt die eigentliche Suche.

Mein Vater war 1992 verstorben, ich fand seine Familie. Es waren neun Schwestern, die natürlich alle jünger als ich waren. Es war ein außergewöhnliches Ereignis, die Schwestern wussten um einen Bruder, der war endlich erschienen. Ich war zu dieser Zeit alleinstehend. Alle, auch Offizielle, ermunterten mich, nach Kasachstan überzusiedeln. Ich unternahm mehrere Versuche, alle scheiterten. Sogar eine Kasachin hatte ich geheiratet. Es nutzte alles nichts.

Das einzige kasachische Russenkind wurde immer bestaunt, aber letztendlich diskriminiert.

Wobei in diesem Falle noch anzufügen ist, dass fast eine Million ethnische Deutsche aus Kasachstan in die Bundesrepublik übergesiedelt sind und Kasachstan einen einzigen solchen Fall nicht lösen wollte oder konnte, das ist eine Frage der Betrachtung.

Mein Vater konnte wegen der stalinistischen Verhältnisse damals nicht mit meiner Mutter und mir zusammenleben. Das heutige Kasachstan hatte verhindert, dass ich mit meiner kasachischen Frau zusammenleben konnte.

Beim kasachischen Volk dagegen erfahre ich viel Sympathie und Zustimmung. Das ist kein Vorwurf, die kasachische Gesellschaft ist eben in ihrer Entwicklung nicht weiter.

 

4. Noch ein paar Punkte

1. Das eine ist die Suche nach dem Vater. Wer sich erst einmal dazu aufgerafft hat, hat Erwartungen. Es sind viele Jahre vergangen, selbst wenn dabei Gewalt oder ähnliches eine Rolle spielte, so habe ich erlebt, dass die Frager etwas Besonderes erwarten. Es ist ja schließlich der Vater. Also eine wichtige Figur. Schon deshalb sehe ich es als besser an, die Abwertung der Väter in den Augen der Kinder (wir sind ja heute inzwischen Rentner) zu beenden. Es waren junge Burschen, die Vorgänge sind über 65 Jahre her, was würden Schuldzuweisung und Rachegelüste noch bringen? Höchstens weitere Verbitterung und Unglück. Im Grunde genommen wäre das das Fortwirken der alten Nazirassenideologie.

2. Einen weiteren Punkt sah ich bei dem Versuch, jemanden zur Vatersuche zu bewegen. Da sagte ich so einfach, dass unsere Väter ja ihre Heimat unter Lebensgefahr verteidigt haben und sie gewissermaßen Helden sind. Ungläubiges Staunen. Bisher waren sie Russen, also nach altem Denken Untermenschen.

Für diejenigen, die sich noch nicht damit auseinandergesetzt hatten, eine völlig neue Sichtweise.

Hier kommt noch die Erfahrung derjenigen dazu, die ihre Familien gefunden haben. Begegnet man dem Vater, respektive seiner Familie, erleben alle sehr bewegende Momente, die man nicht mehr vergessen wird.

3. Auch durch die Rote Armee wurden Handlungen vorgenommen, derer man sich schämen müßte. War der eigene Vater daran beteiligt? Das herauszubekommen ist nahezu unmöglich.

4. Bei der Betrachtung der Geschichtsschreibung zum II.Weltkrieg gab es in der DDR eine Entwicklung. Anfangs nur eine heldenhafte Darstellung der sowjetischen Handlungen– ab Mitte der 60-er Jahre zunehmend realistischere Betrachtungen.

In diese Zeit fielen für die DDR-Bürger Reiseerleichterungen in den Osten. Als ich losfuhr, war ich gespannt, wie wir in der CSSR, Polen, der Sowjetunion aufgenommen werden würden.

Die Deutschen hatten in diesen Ländern gehaust. Was sagen jetzt die Leute dazu?

Es wurde eine freundliche Aufnahme. Keine Anschuldigungen, keine Vorwürfe – nichts.

Ein einziges Mal hörte ich, dass eine ältere Dame in Polen als Nazi bezeichnet wurde.

Wir hatten Freunde in Ungarn, Bulgarien, der Sowjetunion.

Meine erste Ungarnreise 1969 führte einen Freund und mich an den Balaton. Dort holte uns ein älterer Mann am Bahnhof ab. „Ich bin Laszlo, Ihr könnt Lozibaci, Onkel Laszlo, zu mir sagen.“

Was hast Du dort an Deinem Arm?“

Ich saß im KZ und das ist meine Häftlingsnummer. Kümmert Euch nicht darum! Meine Frau wartet auf Euch mit Kaffee und Kuchen.“

Es war für mich eine zwiespältige Situation. Einerseits war ich ein Russenkind, das entsprechende Bewusstsein dafür war nur schwach entwickelt. Schließlich spielte es in meinem damaligen Leben kaum eine Rolle. Andererseits hatte ich einen deutschen Stiefvater, der mich gut behandelte, mir manche Anregung mit fürs Leben gab, der war im Krieg Soldat.

Wir lernten mit unserem besonderen Umstand zu leben. Je älter wir wurden, desto weniger spielte er eine Rolle. Natürlich wieder die Einschränkung, dass das eine allgemeine Erfahrung ist. Die Umstände von Einzelnen können beträchtlich davon abweichen.

Wenn ich das hier so sage, möchte ich dabei ebenso ausdrücken wollen, dass wir inzwischen alt geworden sind. Die Vergangenheit liegt weit zurück, das eventuell erlittene Elend ebenfalls, man möchte sich auf seine alten Tage nicht mehr damit beschäftigen, seine Ruhe haben, plagt sich mit Krankheiten oder sonst etwas.

Oder höchstens etwas unverbindliches machen. Wer kann das nicht akzeptieren?

Und wie schon beschrieben, haben die Selbstbewussten ihr Leben schon längst mit diesem Umstand gestaltet.

 

IV. Resümee

Die Russenkinder wurden groß, schlugen sich durchs Leben, die Umstände verblaßten - in meinem Falle und vielen anderen mit keinen oder nur wenigen Problemen. Anfangs und später keinen Vater zu haben, war in Deutschland, dessen Führung eine junge Generation auf die Schlachtfelder in den Tod schickte, nichts Ungewöhnliches. Andere Russenkinder hatten weniger Glück, sie litten und leiden teilweise bis heute noch - auch durch Verdrängen, Verschweigen und Vergessen.

Und wir sind inzwischen alt geworden. Wen interessiert das noch? Höchstens ein paar Außenseiter, ein paar Wissenschaftler. Die Politiker werden durch aktuelle Sorgen getrieben. Alte Russenkinder – keine besondere Wählerschicht. Machen wir uns nichts vor, das Leben ist über uns drüber weggegangen.

Moralische Lehren – aus unseren Schicksalen wurden sie nicht gezogen. Nach Ende des II. Weltkrieges zogen die Soldaten weiter. Nach Indochina, Afrika, Mittel- und Südamerika, Asien, auf den Balkan und nun aktuell in den Nahen Osten. Immer wurde weiter geschossen, gekämpft, Frauen erlebten und erleben weiter, was unsere Mütter erlebten. Mit ihnen natürlich die Kinder.

Denken wir daran und zeigen ihnen unsere Solidarität und unser Mitgefühl.

Trotzdem möchten wir uns nicht einfach dem Schicksal ergeben. Wir wollen unseren Anspruch und den der nachgekommenen Frauen und Kindern auf Achtung einfordern.

Wir, die Russenkinder des II. Weltkriegs, sind nur noch den älteren Generationen ein Begriff.

Es kamen nämlich neue Russenkinder. Und wenn heute der Begriff benutzt wird, sind andere gemeint. Die Kinder der deutschen Aussiedler. Und zwar deshalb, weil eine Reihe von ihnen nicht mit dem völlig anderen Leben in Deutschland nach der Übersiedlung fertig wurde. Aber das ist ein anderes Thema.