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"Wir müssen lernen, dass intellektuelle Redlichkeit fundamental für alles ist, was wir schätzen." Karl Popper

 

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsbestimmung

3. Die Herkunft der Väter

4. Zum Krieg im Osten 1941 – 1945 und seine Folgen

5. Das Kriegsende

6. Territoriale Entwicklungen

7. Die Geschichte der Russenkinder

8. Ostdeutschland / DDR

9. Die Öffnung der russischen Archive

10. Eine Bemerkung zu den Russenkindern in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion

11. Zusammenfassung

12. Schlussbemerkungen

13. Quellen

14. Literatur

15. Meinungen Anderer

1. Einleitung

Bei der Arbeit des Vereins Russenkinder e.V. stehen die Ermunterung Betroffener zur Suche nach ihren Vätern und Familien, Beratung und Hilfe im Mittelpunkt. Zentraler Anlaufpunkt dafür ist unsere Webseite www.russenkinder.de.

Die Suchen sind durch die Bereitstellung der nötigen Informationen selbstständig möglich. Ebenso kann man uns kontaktieren und unsere Hilfe in Anspruch nehmen. Wir können zwar nicht sagen, wie hoch die Erfolgsquote ist, freuen uns aber jedes Mal, wenn wir von erfolgreichen Suchen erfahren.

Bis zum Ende der Sowjetunion gab es einige Berichte von Russenkindern, die sich auf Reden und Auskünfte Beteiligter bezogen, aber kaum oder nicht überprüfbar waren. Einen Anlaufpunkt, eine Stelle, an der Informationen gesammelt wurden, gab es nicht.

Nach 1991 wurden die Archive der Armee und der Geheimdienste geöffnet und mehr und mehr Russenkinder machten sich auf den Weg der Suche nach ihren Vätern.

Nicht, dass es so etwas nicht vorher gegeben hatte, der Autor selbst versuchte es erfolglos zu DDR-Zeiten zweimal in der sowjetischen Botschaft in Berlin. Auch wissen wir von Müttern, die in die Kasernen der sowjetischen Armee gegangen sind und von den Kommandeuren wissen wollten, was aus den Vätern ihrer Kinder geworden ist, in mindestens einem Falle sogar erfolgreich.

Außer zur ersten Zeit nach dem Krieg, in der es Gewalt gab, bildeten sich Beziehungen verschiedener Natur zwischen sowjetischen Soldaten, Offizieren, Mitarbeitern der Geheimdienste und weiteren sowjetischen Personen heraus. Die Mütter konnten Namen und Adressen erfahren. Sie konnten in die Sowjetunion fahren, ihre Familien treffen. Und sie haben und hätten seit Anfang der 50-er Jahre heiraten und ein gemeinsames Leben führen können.

Das Thema wurde in beiden deutschen Staaten nicht angerührt. Erst nach dem Zerfall der UdSSR begannen Russenkinder öffentlich aufzutreten. Es erschienen in den Medien einige Berichte und Lebensläufe, die mehr emotional ausgerichtet waren.

Es dauerte noch einige Zeit bis Historiker und Sozialwissenschaftler sich des Themas bemächtigten, vor allem im Westen. Sie alle hatten nur spärliche Informationen und wenige Russenkinder, die sich für ihre Zwecke zur Verfügung stellten.

Dabei bildeten sich zwei Tendenzen heraus, die eine ging in Richtung Bewahrung der westlich geprägten Kalte-Kriegs-Ideologie, die andere zu wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Nach Gründung des Russenkindervereins meldeten sich immer mehr Betroffene, um sich helfen zu lassen. Dabei erfuhren wir natürlich viele Schicksale. Sie wollten einmal darüber reden, gewissermaßen von Russenkind zu Russenkind. Einige sprachen zum ersten Mal überhaupt darüber.

Und so sind wir diejenigen, die ein realistisches Bild der Thematik erfuhren und es öffentlich machen. Natürlich musste mit alten Vorstellungen aufgeräumt werden, weil sie sich nicht bewahrheiteten.

Der Text „Phänomen Russenkinder“ beruht auf unseren Erkenntnissen und gewonnenen Informationen durch Kontakte mit über 800 Russenkindern, deren Müttern, Verwandten und anderen Beteiligten.

2. Begriffsbestimmung

Russenkinder sind ein spezieller Teil der Besatzungskinder. Es sind die, welche nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Angehörigen anfangs der Roten Armee, später der Sowjetarmee mit den einheimischen Frauen in Deutschland, Österreich, Dänemark und in den Ländern des Ostblocks gezeugt worden sind.

Zeitlich einzuordnen von 1945 in den genannten Ländern, in der sowjetische besetzten Zone und seit Gründung der DDR 1949 bis Anfang der 90-er Jahre. Am 1. September 1994 feierten der damalige russische Präsident Jelzin mit dem Bundeskanzler Kohl die Verabschiedung der Truppen aus Deutschland im Berliner Schauspielhaus.

Die Bezeichnung Russenkind leitet sich aus der faschistischen Rassenterminologie ab. Unter Russen verstanden stark abwertend die Nazis vereinfachend alle Bewohner der Sowjetunion. Wir behielten diesen Begriff bei, weil er kurz und prägnant ist. In diesem Zusammenhang spielt die Naziideologie nur noch in den Köpfen von alten Leuten eine Rolle.

3. Die Herkunft der Väter

Tatsächlich setzte sich die sowjetische Bevölkerung folgendermaßen zusammen. Die Sowjetunion bestand 1941 vor dem Überfall Deutschlands und dem Beginn des Krieges aus 16 Republiken:

 

Russische Republik (RSFSR), Ukrainische SSR, Weißrussische SSR, Usbekische SSR, Kasachische SSR, Georgische SSR, Aserbaidschanische SSR, Litauische SSR, Moldauische SSR, Lettische SSR, Kirgisische SSR, Tadschikische SSR, Armenische SSR, Turkmenische SSR, Estnische SSR

Von 1940 bis 1956 noch die Karelo-Finnische SSR, welche in die RSFSR eingegliedert wurde.

Dazu kommen über 100 Völker wie Abasiner, Abchasen, Assyrer, Burjaten, Chakassen, Dunganen, Eskimos, Gagausen, Inguschen, Juden, Kalmyken, Karelier, Nenzen, Osseten, Saamen, Tataren, Tscherkessen, Tschetschenen, Uiguren, Zigeuner etc.

Außerdem leben im Land noch kleinere Gemeinschaften anderer Nationen zum Beispiel Koreaner, Iraner, Deutsche usw.

Diese verschiedenen Nationalitäten und Völkerschaften dienten während des Krieges in der Roten Armee und verschiedenen anderen Diensten.

Dazu kommen die Emigranten aus Deutschland, den besetzten Ländern wie Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Bulgaren, ebenso kämpften eine französische Einheit, zwei polnische Armeen, eine tschechoslowakische Armee, eine bulgarische und weitere an der Front gegen die deutschen und mit ihnen verbündeten Aggressoren.

Die Väter der Russenkinder stammen aus diesen Nationen und Völkern.

4. Zum Krieg im Osten 1941 – 1945 und seine Folgen

Zum Krieg und den Erfahrungen der Soldaten und Offiziere der Roten Armee Der Eroberungskrie

 

g, ein Rassenvernichtungskrieg, den Deutschland im Juni 1941 begann, machte die überfallene Bevölkerung zur Beute [1].

Zwangsarbeit , auch durch Verschleppung nach Deutschland, willkürliche Erschießungen, Ermordung von Juden, Parteifunktionären, als rassisch minderwertige Bevölkerung angesehene wie Asiaten, die Vergewaltigung und Ausnutzung von Frauen für Dienstleistungen und sexuelle Zwecke, Hunger und Not durch Unterversorgung, Zerstörung der Lebensgrundlagen waren die Merkmale der deutschen Besetzung der eroberten Gebiete.

Zur sexuellen Gewalt der Wehrmacht und deutschen Dienststellen in der Sowjetunion während des Krieges schreibt Regina Mühlhäuser in „Eroberungen“ [2].

30 Millionen sowjetische Zivilisten waren schon von vorn herein als Opfer durch Hunger bei der Ausplünderung des Landes geplant [3].

5. Das Kriegsende

Am Ende des Krieges gab es über 14 Millionen tote sowjetische Zivilisten.

Das Ausmaß der Zerstörung auf dem Territorium der Sowjetunion [3]: „2 000 Städte zerstört, zehntausende Dörfer zerstört, die teilweise bis heute nicht wieder aufgebaut wurden, Infrastruktur zerstört, jedes zweite Haus unbewohnbar“.

Unter diesen Eindrücken standen die Soldaten und Offiziere der Roten Armee, als sie auf deutsches Territorium vorstießen.

Die deutsche Führung verhinderte die rechtzeitige Evakuierung der Zivilbevölkerung in den östlichen Gebieten. Deshalb geriet sie teilweise in die Kampfhandlungen.

Es herrschte Chaos. Einerseits gab es auf deutscher Seite Durchhaltebefehle. Wer sich zurückzog, musste Hinrichtung befürchten, anderseits rückte die Rote Armee stetig weiter vor. Unter solchen Verhältnissen trafen die sowjetischen Soldaten auf die deutsche Bevölkerung.

Die Nazipropaganda hatte gründlich gewirkt. Viele Deutsche hatten Angst.

Dabei ging die historische Mission der sowjetischen Truppen unter – die Befreiung von einem menschenverachtenden und sich zunehmend gegen die eigene Bevölkerung richtenden System, welches großes Elend über die Völker gebracht hatte.

Es gab Plünderungen, Vergewaltigungen, Diebstahl und andere Gewalt. Sie waren sporadische Reaktionen der Soldaten der Kampfverbände in den vordersten Linien. Es war ein kleinerer Teil, der sich daran beteiligte. Siegestaumel, endlich Deutschland am Boden sehend, Alkohol, das Wissen um die Gewalt der deutschen Besatzung in der Heimat, die Wirkung des unmenschlichen Soldatenlebens waren die Ursache.

Auf diese Erscheinungen war die sowjetische Führung nicht vorbereitet. Sie waren nicht befohlen, nicht systematisch organisiert. Sie entluden sich spontan. Es war nur ein geringer Teil der Soldaten daran beteiligt.

Rasch erfuhr die sowjetische Militärführung in Moskau davon. Sie erließ strengste Befehle, die Strafen bis zur Erschießung androhten, um diese Entwicklungen zu verhindern.

Marschall Rokossowski gab nach Bekanntwerden der Gewaltausbrüche in Ostpreußen, die Führung der Truppeneinheiten ging zeitweise verloren, am 22. Feb. 1945 den Befehl, „diese schändlichen Erscheinungen auszumerzen… die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen … bis zu Erschießungen.“[3]

In Vorbereitung der Schlacht um Berlin gab es wiederum solche Befehle, angedroht waren „Kriegsgericht oder unverzügliche Erschießung“ [4]. Die Durchsetzung konnte erst nach und nach erfolgen.

Im Februar 1945 hatten die Alliierten in Jalta Deutschland aufgeteilt und für die sowjetische Führung gab es keinen Grund, gewaltsam und brutal mit der Bevölkerung zu verfahren, die man für seine eigenen Ziele gewinnen wollte.

Das Oberkommando in Moskau ordnete deshalb an „Übergriffe zu unterlassen. Eine gute Behandlung der deutschen Bevölkerung sollte die Kampfführung und später die Besatzung erleichtern“[3].

In „Sexuelle_Gewalt_im_Zweiten_Weltkrieg“ [5] wird von Historikern über die sexuelle Gewalt der Roten Armee in Ostdeutschland diskutiert. Allen dort genannten Zahlen ist gemeinsam, dass sie nicht belegt werden können und es sich um Schätzungen und Hochrechnungen handelt.

Ein Beispiel: „Barbara Rohr schätzt, dass dabei an die zwei Millionen Frauen und Mädchen Opfer sexueller Gewalt wurden, etwa 1,4 Millionen bei Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten, 600.000 in Berlin und der späteren Sowjetischen Besatzungszone“.

Ein weiteres: „Ilko-Sascha Kowalczuk und Stefan Wolle gehen von 110.000 bis 800.000 Fällen in Berlin im Jahr 1945 aus. Schätzungsweise 40 Prozent der Opfer wurden mehrfach vergewaltigt.“

Im Laufe der Jahre 1945 bis 1947 wurden mehr und mehr Soldaten kaserniert.

Zum Ende der Kampfhandlungen im Mai 1945 verfügte die Rote Armee über 1,5 Millionen Soldaten und Offiziere in der sowjetisch besetzten Zone. Noch im Mai 1945 begann die Rückverlegung von Truppen in die Heimat. Ende 1947 hatte sich die Gruppierung auf 350 000 Mann reduziert [6].

6. Territoriale Entwicklungen

In Jalta erfolgte im Februar 1945 durch Stalin, Roosevelt und Churchill die Aufteilung der deutschen Gebiete.

Ostpreußen wurde geteilt. Der östliche Teil ging an die Sowjetunion, der Rest an Polen. Schlesien wurde ebenfalls polnisch. Das Sudetenland wurde der Tschechoslowakei zugeordnet. Deutschland wurde in vier Zonen geteilt.

Aus den östlichen Gebieten flohen Deutsche nach Westen. Andere wiederum wurden in Lager verbracht und nach und nach ins deutsche Gebiet entlassen. So kamen zusammen mit ihren Familien Russenkinder in die vier Besatzungszonen. Somit kann festgehalten werden, dass in den westlichen Besatzungszonen ausschließlich die Deutschen das Schicksal der Russenkinder gestalteten und beeinflussten.

Die Entwicklung fand seit der Besetzung 1945 nur in der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR statt. Wer über die Russenkinder einigermaßen seriös berichten möchte, muss sich schon mit den östlichen Zeugen und Quellen befassen.

Diese Entwicklung wurde bis zum Truppenabzug Anfang der 90-er Jahre immer vielfältiger.

In der sowjetischen Besatzungszone bekam die Armee die Aufgabe, Ordnung wiederherzustellen, Kriegsverbrecher zu verhaften, den Verkehr und die Versorgung der Bevölkerung zu organisieren, die Kriminalität zu bekämpfen. Weiter musste durch die Zerstörung ganzer Städte wie Berlin, Dresden, Chemnitz und vieler anderer die obdachlos gewordene Bevölkerung, aber ebenso die Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten untergebracht werden.

Die Aufgabe bestand unter der Maßgabe, gleichzeitig eine sozialistische Ordnung sowjetischen Musters zu errichten. Dazu kamen sowjetische und deutsche Funktionäre aus der Sowjetunion, die auf diese Aufgabe vorbereitet worden waren.

Das hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Zusammenleben des Militärs mit der Zivilbevölkerung.

In der Armee wurde die militärische Ordnung wiederhergestellt. Die Beziehungen zwischen Militärangehörigen und deutschen Frauen änderten ihren Charakter. Liebesbeziehungen, sie wurden von den Familien, die sich am Wiederaufbau beteiligten und die Rote Armee als Befreier begrüßt hatten, wohlwollend betrachtet, ebenso entwickelten sich Schutz-, Versorgungs- und andere Beziehungen.

Diese Umstände erlaubten den Austausch von Adressen, das Kennenlernen der Familien.

In den ersten Jahren wurden die werdenden Väter gewöhnlich versetzt oder demobilisiert. Sie verschwanden, konnten sich manchmal verabschieden oder Abschiedsbriefe schreiben.

Ebenso gab es Väter, die ihre Beziehungen als Abenteuer betrachteten, falsche Angaben gegenüber den Müttern machten und sich freiwillig durch Versetzung der Verantwortung entzogen.

Aus dem Fall des Autors ist zu ersehen, dass die Kommandeure die Verhältnisse mit deutschen Frauen in der Regel tolerierten.

Insgesamt muss dazu gesagt werden, dass stalinistische Verhältnisse herrschten. Die Rote Armee wurde im Kriege gebraucht, so dass den Geheimdiensten der Zugriff auf sie von Stalin selbst unterbunden wurde. Nach Kriegsende nahm der Druck jedoch wieder zu. Im ostdeutschen Besatzungsgebiet hatten diese Dienste unter anderem die Aufgabe, die Reparationsleistungen, das heißt den Abbau und den Transport wichtiger Fabriken und Fertigungsstätten in die Sowjetunion zu leiten und zu überwachen, ebenso waren sie am Aufbau und der Überwachung der neuen Gesellschaftsordnung beteiligt. Und hier kam es zu Konflikten mit dem Militär. Die Kommandeure sahen sich bei Anzeige von Verhältnissen von russischen Militär- und Geheimdienstangehörigen gezwungen, darauf zu reagieren. Es gab im Grunde genommen zwei Möglichkeiten, einmal die Versetzung des Betroffenen an einen anderen Standort oder, wie im Falle des Vaters des Schreibers dieser Zeilen, dessen Demobilisierung.

Von Angehörigen der Geheimdienste gibt es ebenfalls Russenkinder.

Wenn den Frauen unkontrollierbare Auskünfte wie Strafgefangenenlager, Sibirien, Erschiessung etc. für die verschwundenen Väter gegeben wurde, kann davon ausgegangen werden, dass diese nicht mehr nachfragen sollten, sie abgewimmelt wurden, um für sich selbst eventuelle Unannehmlichkeiten zu vermeiden.

Ein Fall wurde uns bekannt, dass ein Betroffener nach Sibirien in ein Straflager verbracht wurde. Er hatte Fahnenflucht begangen. Von Erschießungen ist uns nichts bekannt.

Seit den 50-er Jahren gab es die Möglichkeit zu heiraten und ein gemeinsames Leben aufzubauen.

7. Die Geschichte der Russenkinder

Deutschland war im Wesentlichen zerstört. Besonders die großen Städte waren durch die Bombenangriffe betroffen. Die Alliierten begannen das Leben in ihren Besatzungszonen wieder zu organisieren. Die Bevölkerung litt unter Wohnungsmangel, Hunger, unzureichender medizinischer Versorgung, um das wichtigste zu nennen.

Ende 1945 / Anfang 1946 wurden die ersten Russenkinder geboren. Frauen, die durch Gewalt schwanger wurden, ließen bei Möglichkeit abtreiben. Andere nahmen sich das Leben.

Viele trugen ihre Kinder aus, zogen sie groß. Ebenso wurden Russenkinder in Familien gegeben, zur Adoption freigegeben. Manche wurden in Heime verbracht.

In der deutschen Bevölkerung herrschte noch die Naziideologie in den Köpfen. Sie war der Hauptgrund für alles Elend, welches manchen Russenkindern angetan wurde.

Die Mütter, die Kinder, die Familien sind durch Ächtung von Freunden, Nachbarn, Kollegen in große Probleme gestürzt worden.

Offene Diskriminierungen gab es in beiden Teilen Deutschlands in nur sehr geringem Umfang. Die staatlichen Stellen haben diese Vorgänge bürokratisch abgehandelt.

Die vielen Zurücksetzungen, psychischen und physischen Verletzungen wurden den Russenkindern durch die eigenen Familien, Verwandten, Freunde, Nachbarn, Kollegen etc. angetan. Die Väter waren gewöhnlich nicht mehr da, konnten ihre Kinder nicht davor bewahren.

Es sind Fälle bekannt geworden, dass die Väter Unterhalt an die Mütter zahlten. Unklar ist, wie lange und wie die Höhe berechnet wurde.

Die Nazierziehung, die Naziideologie hatten bewirkt, dass Menschlichkeit und Vernunft in den Köpfen der Deutschen verschüttet waren. Die Tragik bestand darin, dass es für Betroffene viel zu lange gedauert hat, bis das aufgebrochen wurde.

In Ostdeutschland gab es Benachteiligungen nur noch versteckt. Offene antisowjetische Handlungen und Bekenntnisse waren nicht möglich.

Mit der Zeit kamen die ersten Russenkinder in die Schule und entwickelten sich entsprechend ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten wie alle später geborenen ebenfalls. Das Thema der Herkunft spielte in der Regel keine Rolle. Wenn doch, trat es immer mehr in den Hintergrund. Selbst heute noch gibt es Beispiele dafür, dass diese Kinder abgelehnt werden. Dem Autor und vielen Anderen ist derartiges nicht widerfahren.

Im Westen wurden diese Kinder von staatlicher Seite unterschiedlich behandelt. Von Westberlin erfuhren wir inzwischen, dass bei Bekenntnis der Mutter, dass sie das Kind durch Vergewaltigung bekommen hatte, Unterhalt möglich war.

8. Ostdeutschland / DDR

Noch etwas zur Sprachverständigung in der Beziehungen. Die Rotarmisten wurden bei Betreten des deutschen Raumes notdürftig sprachlich darauf vorbereitet. „Hände hoch!“ und so weiter. Also alles, was im Kampf nützlich war und was zur Verkürzung der Kampfhandlungen beitrug.

Als das Militär länger im Lande blieb und seine Ordnungs- und Gestaltungsaufgaben bekam, wurde auch die deutsche Sprache immer wichtiger.

Die Mütter kannten in der Regel kein Wort Russisch. Das änderte sich erst, als die Schulen schon 1946 mit dem Russischunterricht begannen. Die Mütter waren damit noch nicht besser dran, aber nach und nach erlernten auch sie Vokabeln, um sich mit ihren sowjetischen Partnern verständigen zu können. Man kann davon ausgehen, dass es die Beziehungen verbesserte, aber auch Missverständnisse und Probleme daraus entstanden sind.

In der DDR, welche sich ja zu einer sozialistischen Gesellschaft sowjetischen Musters entwickelte, wurde nichts in der Frage Russenkinder unternommen. Das bedeutet nicht, dass es nicht staatlicherseits zur Kenntnis genommen wurde. Die Bevölkerung wusste um die Russenkinder. Der Autor heißt Anatoly Nicolai mit Vornamen. Da gab es keine Fragen, keine Benachteiligung, nichts Negatives.

Das betraf ebenfalls andere Teile der Bevölkerung. Die vielen Umsiedler aus den Ostgebieten wurden ebenfalls nicht gesondert behandelt.

Der Aufbau der Gesellschaft bot allen jungen Menschen die gleichen Chancen. Wer die körperlichen und geistigen Voraussetzungen hatte und nicht gegen die sozialistische Gesellschaft eingestellt war, konnte sich entsprechend entfalten.

Nicht verschwiegen werden darf, dass es einige wenige Russenkinder gegeben hat, die in die Mühlen geraten sind. Hier spielte eine Rolle, dass die Mütter nicht mit ihrem Schicksal fertig geworden sind, sich teilweise zu Hetze gegen den Staat hinreißen ließen oder den sowjetischen Vätern halfen, in den Westen zu fliehen.

DDR-Flüchtlinge, die in den 50-er und Anfang der 60-er Jahre bis zum Mauerbau über Westberlin geflohen waren, wurden durch die westlichen Geheimdienste ausgefragt. Wenn Frauen Möglichkeiten hatten, sowjetische Militärangehörige auszuforschen, wurden sie mit dieser Aufgabe zurückgeschickt – Amateurinnen in der Militärspionage. Ebenfalls eine Möglichkeit der Herkunft von Russenkindern, deren Situation schwierig war.

Die DDR und die sowjetischen Organe nutzten das Wissen um das Russenkinderdasein.

Der Autor zum Beispiel konnte die Kadettenschule besuchen. Natürlich waren hervorragende Zeugnisse und ein sehr guter sportlicher Zustand dafür nötig. An dieser Schule war vorgesehen, eine Offizierselite heranzubilden.

Ebenso hatten Bewerber bei den bewaffneten Organen wie Polizei, Zoll etc. einen Vorteil. Die Staatssicherheit wählte ihre zukünftigen Mitarbeiter selbst aus und sprach sie an. Auch da sind Russenkinder hinzugezogen worden.

Für die berufliche Entwicklung eines DDR-Bürgers konnte es ein Vorteil sein, keine Verwandtschaft im Westen zu haben. Das entfiel bei Russenkindern schon auf Vaters Seite.

Je länger die Zeit voran schritt, desto unverkrampfter wurde das Zusammenleben der Bevölkerung mit der Sowjetarmee.

In den Garnisonsstädten, meistens kleine Provinzstädte, wurden zum Beispiel Neubauten errichtet, in die teilweise das sowjetische Offizierskorps mit ihren Familien untergebracht wurde. Beispiele sind, selbst in Augenschein genommen – Altenburg, Neustrelitz und Bad Freienwalde.

Das Zusammenleben wuchs in verschiedenen Formen. Gemeinsame kulturelle und sportliche Kontakte, Arbeitseinsätze der sowjetischen Armee in der DDR-Wirtschaft, Hilfe bei Katastrophen sind hier zu nennen. Die Kasernen wurden örtlich versorgt, Wasser, Strom, Müllentsorgung und was sonst noch dazu gehörte. Bau- und Reparaturkapazitäten wurden benötigt. Entsprechende Materialbilanzen mussten geplant und mit den DDR-Behörden abgestimmt werden etc.

Das bedingte Zusammenarbeit und Kontakte in den Garnisonsstädten.

In der sowjetischen Armee gab es Flucht von Angehörigen. In die Suchen wurden ebenfalls die entsprechenden staatlichen Stellen der DDR einbezogen.

In der DDR gab es eine Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, deren Aufgabe es war, die Bevölkerung mit der russischen und sowjetischen Lebensweise und Kultur bekannt zu machen. Dazu wurden Treffen mit sowjetischen Menschen, Touristen und auch Armeeangehörigen organisiert.

Ebenso wichtig: Das Militärbündnis der sozialistischen Staaten. Unter Führung der Sowjetarmee wurde das Verteidigungssystem auf- und ausgebaut. Gemeinsame Übungen fanden statt. NVA-Einheiten (DDR-Armee) fuhren zum Übungsschießen mit Raketen in die Sowjetunion, Offiziere studierten an den sowjetischen Militärschulen und Akademien, riesige gemeinsame Manöver fanden in den sozialistischen Ländern statt.

In der NVA waren auch Frauen beschäftigt. Die lernten durch gemeinsame Arbeit ebenfalls sowjetische Militärangehörige kennen. Inzwischen sind uns zwei Fälle bekannt geworden, aus denen Kinder hervorgingen.

Ebenso wurden private Handelsbeziehungen genutzt. Die DDR-Bevölkerung hatte das höchste Lebensniveau im sozialistischen Lager, es boten sich Tauschgeschäfte an. Es wurden zum Beispiel keine Ölradiatoren (Heizkörper, die mit elektrischem Strom arbeiteten) gebaut und verkauft, weil die Energieversorgung der DDR einen massenhaften Einsatz nicht erlaubte. Die beschaffte man sich aus der Sowjetunion unter anderem über solche Kanäle. Bestellabgabe am Kasernentor.

Die Beziehungen zwischen sowjetischen Militärangehörigen und einheimischen Frauen wurden, soweit die militärischen Bedingungen der Väter eingehalten wurden, normal möglich. Entzog sich der Vater seiner Verantwortung, so war es den Frauen aufgrund der Reisefreiheit in die sozialistischen Länder möglich, den Vater oder seine Familie aufzusuchen.

Nachfragen von Russenkindern an staatliche Stellen wurden nicht beantwortet. Der Autor fragte zweimal in der sowjetischen Botschaft in Berlin nach dem Vater. Ohne Antwort.

Es gab mutige Mütter von Russenkindern. Die sind zur Kaserne gegangen, haben den Namen und Adresse des Vaters wissen wollen, wenn der sich seiner Verantwortung entzogen hatte. Auch da gibt es mindestens einen Fall einer couragierten Mutter, der es tatsächlich gelang, den Kommandanten dazu zu bewegen, ihr diese Angaben zu übermitteln.

9. Die Öffnung der russischen Archive

Nach dem Fall der Mauer öffneten sich die inzwischen russischen Archive. Das wichtigste Archiv für Russenkinder, das des Verteidigungsministeriums in der Stadt Podolsk bei Moskau, erteilt seit mindestens 1993 die entsprechenden Auskünfte.

Notwendig dafür ist der Name des Vaters. Auf Antrag bekommt man die Angaben zum Vater, die das Archiv zur Verfügung hat. Der Autor bekam so den Lebenslauf, ein Foto, die Adresse, als der Vater aus der Reserve entlassen wurde. Von da aus kann man die Suche beginnen.

Inzwischen haben die Geheimdienste und anderen Einrichtungen ebenfalls ihre Archive für derartige Anfragen geöffnet.

Welche Suchmöglichkeiten zur Verfügung stehen, kann man auf der Webseite des deutschen Russenkindervereins nachlesen.

Dort wird beschrieben, welche sonstigen Möglichkeiten es dafür noch gibt. Ebenso erteilt der Verein Hilfe bei der Suche.

Durch die Öffnung der Archive erfahren wir eine Versachlichung des Themas. Jetzt sind wir in der Lage, mit den Gerüchten, Vermutungen, ja offenen Lügen aufzuräumen, wer immer sie in die Welt gesetzt haben mag. Uns ist nach über Tausend inzwischen beratenen Russenkindern kein einziger Fall bekannt geworden, dass es Erschießungen, Lagerhaft oder Verschleppung nach Sibirien gab wegen der Zeugung eines Kindes. Ebenso wird mehr und mehr offensichtlich, dass es eine nicht geringe Anzahl von sowjetischen Vätern gab, die versucht haben, ihre Kinder mit in die Sowjetunion zu nehmen. Manche Familie blieb zusammen und die Kinder wuchsen in stabilen Verhältnissen auf. Ebenso gab es Fälle, in denen die Väter versuchten, sie einfach mitzunehmen. In der Regel haben die Mütter das verhindert, sie wollten ihre Kinder nicht hergeben, wollten nicht mit den Vätern, die irgendwann einmal versetzt wurden, mitziehen. Schließlich hatte die DDR das höchste Lebensniveau im ganzen sozialistischen Lager.

10. Eine Bemerkung zu den Russenkindern in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion

Beim Abzug aus den späteren Nachfolgestaaten der Sowjetunion blieben ebenfalls Russenkinder zurück. Hier muss man darauf aufmerksam machen, dass die Beteiligten alle eine Staatsbürgerschaft hatten – nämlich die sowjetische – und eine Lingua Franca – das Russische.

Die zaristische Armee hatte bei der Aushebung von Wehrpflichtigen das Territorialprinzip in Anwendung. Das heißt, alle jungen Männer einer Stadt oder Region wurden zusammen in eine Einheit eingezogen. Kam es zu einer brenzligen Situation, eilten die anderen Soldaten zu Hilfe. Es waren ja ihre Nachbarn und Freunde.

In der Roten Armee wurde das Anfang der 20-er Jahre verworfen. Die Nachteile überwogen. Wenn eine solche Einheit im Kampf aufgerieben wurde, hatte das entsprechende Gebiet plötzlich alle jungen Männer verloren.

Und so sollten die, die sich mit dem Problem Russenkinder in den Nachfolgestaaten beschäftigen, daran denken, dass es alle Sowjetrepubliken betraf. Meine kasachische Verwandtschaft diente zum Beispiel in Lettland und in der Ukraine. So wie Letten und Ukrainer in anderen Republiken oder gar im Ausland, zum Beispiel in der DDR, ihren Wehrdienst ableisteten.

 

11. Zusammenfassung

Hier folgt eine Zusammenfassung von Ereignissen, Haltungen, Absichten usw. Zu lesen sind die Einträge in einer Liste als mögliche Alternativen, die es wohl alle gab. Und da das Leben vielfältig ist, wird es noch weitere gegeben haben.

Die Väter waren

  • aus allen Sowjetrepubliken

  • aus an der Seite der Roten Armee kämpfenden ausländischen Truppen

  • Soldaten, Mannschaften, Offiziere

  • Mitarbeiter der Geheimdienste

  • ledig, mit und ohne Familie in den Garnisonen

  • mit und ohne Kinder

  • mit einem Russenkind von einer Frau

  • mit mehreren Russenkindern von mehreren Frauen

  • zahlten Unterhalt, zahlten keinen Unterhalt

Sie machten gegenüber den Frauen

  • Namens- und Adressangaben

  • machten falsche Angaben

  • machten keine Angaben

Verhältnisse - Beziehungen

  • Liebesbeziehungen mit ernsthaft Absichten

  • Versorgungsbeziehungen (Vergessen wir nicht, die wir in einer Wohlstands- und Konsumgesellschaft leben, dass es damals nichts oder kaum etwas zu kaufen gab.)

  • Schutzbeziehungen

  • Abenteuer – von beiden Seiten

  • die jungen Leute wollten ihre Jugend ausprobieren

  • aus Zeitvertreib

  • weil sich die Gelegenheit bot

  • nicht immer wollten beide das

  • Gewalt

Die Frauen

  • hofften auf ernsthafte Beziehungen

  • Liebe

  • Abenteuer

  • die deutschen Altersgenossen saßen in Kriegsgefangenschaft, waren vom Krieg traumatisiert, waren an Kriegsverbrechen beteiligt (Ein Kriegsteilnehmer sagte einmal Anfang der 50-er Jahre: “Wenn die Russen mit uns das machen würden, was wir ihnen angetan haben, dann Gnade uns Gott!“) und hier waren junge kräftige Männer, die hatten Selbstbewusstsein, strotzten vor Kraft, konnten das schwere Leben erleichtern

  • zogen ihre Kinder ohne Benachteiligung groß

  • liebten ihre Kinder und sorgten für sie

  • benachteiligten die Kinder

  • gaben sie in die Familie weiter

  • gaben sie zur Adoption frei

  • zogen ihre Kinder allein groß

  • heirateten

  • heirateten wieder

Russenkinder

  • kamen unschuldig auf die Welt

  • wurden teilweise unter schwierigen Bedingungen geboren

  • wurden in den Familien besonders geliebt

  • sollten es besser haben

  • wurden abgelehnt, weggegeben

  • wurden missbraucht

  • wurden gehänselt und beschimpft

Die Benachteiligten

Wie alle benachteiligte Menschen

  • wehrten sie sich

  • ließen alles über sich ergehen

  • ihr Selbstbewussten wurden durch die Umstände gestärkt

  • die Ängstlichen duckten sich

Russenkinder wurden

  • normale Menschen wie alle anderen, mutige, optimistische, fröhliche Menschen

  • ebenso feige, ängstliche, misstrauische Menschen

Sie verarbeiteten ihre Schicksale

  • aktiv oder verdrängten sie

  • flohen vor den beengten Verhältnissen

Sie wurden selbst Mütter und Väter

  • erzogen ihre Kinder zu selbstständigen Menschen

  • bei Nichtverarbeitung ihrer Probleme gaben sie die an ihre Kinder weiter

     

12. Schlussbemerkungen

Wir hoffen, mit diesem Text einen Beitrag zu leisten, der eine realistische Sicht auf unser Thema ermöglicht. Da es sich um Menschen handelt, gibt es natürlicherweise ebenso eine emotionale Komponente. Diese schwingt bei einzelnen Erzählungen und Schicksalen immer mit.

Hier geht es um ein sachliches Bild unserer Entwicklung und unseres Daseins.

Bitte helfen Sie, diesen Artikel weiter zu qualifizieren! Schreiben Sie einen Kommentar. Hier wurden wichtige Aspekte, nicht alle, berücksichtigt.

 

13. Quellen

[1] Deutsches Historisches Museum Berlin - www.dhm.de/lemo/kapitel/zweiter-weltkrieg/kriegsverlauf/sowjetunion

[2] Regina Muehlhäuser „Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945“ Hamburger Edition; Auflage: 1. Aufl. (6. April 2010) ISBN-13: 978-3868542202

[3] Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst www.museum-karlshorst.de/de.html

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_um_Berlin

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Sexuelle_Gewalt_im_Zweiten_Weltkrieg

[6] Sowjetische Truppen in Deutschland und ihr Hauptquartier in Wünsdorf 1945-1994: Geschichte, Fakten, Hintergründe (Forum Moderne Militärgeschichte) Taschenbuch – 1. Juli 2017 Köster von Hans-Albert Hoffmann (Autor),‎ Siegfried Stoof (Autor) Seite 28, 33

14. Literatur

Wladimir Gelfand „Deutschland-Tagebuch 1945-1946: Aufzeichnungen eines Rotarmisten Taschenbuch“ Aufbau-Verlag; Auflage: 1 (2005) ISBN-13: 978-3351025960

 

15. Meinungen Anderer

Kommentar zum Phänomen „Russenkinder“

Es ist schwer zu beurteilen, ob ein Betroffener, ein „Russenkind“, umfassend und einigermaßen neutral beurteilen kann, wie man mit diesem Phänomen umgehen soll. In sehr vielen Fällen sind die seelischen Verwundungen ganz erheblich und begleiten ein „Russenkind“ bis weit ins Erwachsenenalter. Besonders die, welche in den 40er und 50er Jahren geboren wurden, haben oft leidvolle Erfahrungen, weil sie von der Generation ihrer Eltern eher geächtet oder ausgegrenzt wurden. Ihre deutschen Mütter wurden oft verachtet, weil sie sich mit einem Mann aus einer „niederen“ Kultur eingelassen hatten.

In der Tat gibt es unzählige Beispiele, wie sowjetische Soldaten nach dem Krieg mit der Lebenswirklichkeit in Deutschland nur schwer zurechtkamen. Man kann schwerlich leugnen, dass der Lebensstandard in der Sowjetunion ganz erheblich niedriger war. Hinzu kommen Faktoren wie die geografische Herkunft vieler dieser jungen Soldaten und Offiziere und die politisch gewollte Proletarisierung weiter Bevölkerungsschichten durch das langjährige Wirken des stalinistischen Systems in ihrer Heimat.

Nur so ist zu verstehen und einzuordnen, dass wir Russenkinder uns der Einfachheit, oft auch Derbheit der Masse der sowjetischen Soldaten oft schämten.Die meisten „Russenkinder“ meiner Generation haben ihre Väter nicht kennenlernen können, jedoch wurde von unseren Müttern,- soweit sie bereit waren, über unsere Väter zu sprechen, ein ganz anderes Bild vom eigenen Vater vermittelt, das so gar nicht ins übliche stereotype Bild der „Russen“ vor Ort passte, die da in fleckigen Uniformen herumliefen, stark nach Knoblauch rochen und mit billigen Pappkoffern durch die Stadt zum Einkaufen zogen. Doch dieses Image „der Russen“ in der Öffentlichkeit wurde erst durch meine erste (Studenten) Reise in die Sowjetunion der 60er Jahre konterkariert.

Diese Menschen waren ganz anders als die bei uns daheim präsenten Soldaten, oft mit grimmigem Blick in unseren Heimatstadt-Garnisonen. Man könnte meinen, die sowjetischen Militärs als Besatzer haben ihr Image selber verdorben. Ein Gutteil ihres Auftretens mag Siegermentalität gewesen sein,- oder sie konnten und kannten es einfach nicht anders.

Wir haben als Kinder auf die Panzer der „Russen“ klettern dürfen und konnten auch hineinklettern. Das alles ist so schön von meinem Spielfreund, dem Schriftsteller Jürgen Fuchs, beschrieben worden, aber wir haben auch erlebt, wie ins Manöver fahrende Panzer uns die Nachtruhe raubten und Straßen und Felder arg beschädigten.

Für ein Russenkind wie mich war es immer eine Gratwanderung und immer ambivalent, soweit man nicht als Folge einer Vergewaltigung zur Welt gekommen war: Stolz sein auf den unbekannten, oft gutaussehenden Vater oder sich und seine Gefühle schamvoll verstecken. Nicht alle Diskriminierung eines Russenkindes ist auf den nazistischen Rassenwahn und dessen Langzeitwirkung zurückzuführen:

Die Erfahrung von Vergewaltigung, Plünderung oder Verschleppung in sowjetische Lager hat sich für Generationen tief in die Hirne der Deutschen eingebrannt, auch wenn heute nur noch aus Überlieferung bekannt.

Für uns älter und alt gewordene Russenkinder könnte es eine Aufgabe sein, eine Brücke zwischen unserer Welt und dem Land unserer Väter zu schlagen, damit wir einander besser verstehen lernen und die andere Mentalität der Menschen in Russland deuten und erklären können.

Die 70er und 80er Jahre im Umgang mit Russenkindern“ hat der Autor dieses Kommentars nicht mehr aktiv erlebt, da er in die Bundesrepublik übergesiedelt war.

E. L.                                                                                                                                                                                                    22. 4. 2021