Schicksal eines Russenkindes
Als ich vor kurzem das Bild meines russischen Vaters auf dem Bildschirm sah, bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich hatte nie ein Foto von ihm und habe mich mein Leben lang nach meinem Vater gesehnt, auf dass wir uns in die Arme nehmen können. Doch dafür ist es jetzt zu spät.
Alles der Reihe nach: Im Haus meiner Großeltern in Thüringen waren 1945 einige sowjetische Soldaten einquartiert. So kam es verständlicher Weise auch zu persönlichen Kontakten und Gesprächen. Ein blutjunger Sergeant fand in meinen Großeltern so etwas wie Ersatz-Eltern. Der junge gutaussehende Russe und die einzige Tochter des Hauses verliebten sich und wurden heimlich ein Paar.
Wahrscheinlich wurde dieses verbotene Liebesverhältnis von den Offizieren entdeckt, sodass der junge Sergeant in eine andere Stadt versetzt wurde. Und da verlor sich die Spur von ihm für immer….
Er wusste nicht, dass meine Mutter von ihm schwanger war. So wurde ich 1947 geboren und von meinen Großeltern liebevoll aufgezogen. Meine Mutter arbeitete bei der Post im Schichtdienst. Für mich als kleinen Jungen waren die Eltern meiner Mutter auch meine Eltern.
Die Situation veränderte sich rapide, als meine Mutter einen sehr einfachen Mann heiratete. Die Auswahl bei der Partnersuche wird nicht groß gewesen sein, obwohl sie eine bildhübsche Frau war. Welcher Mann wollte schon ein Russenkind großziehen?
Dieser Mann, der mein Stiefvater wurde und dessen Namen ich verpasst bekam, erwies sich sehr bald als ziemlich brutaler und sehr einfach gestrickter Mensch. Schon als kleiner Junge hatte ich ein tiefes Gefühl der Ablehnung und des Ekels. Hinzu kam, dass er mich auch bei kleineren Verfehlungen windelweich prügelte und bis ins Erwachsenenalter keinerlei Widerspruch duldete.
Als Kind hatte ich einfach nur noch Angst vor ihm. Mir wurde von meiner Mutter eingebläut: „Das ist Dein Vati.“ Doch schon als kleinerer Junge spürte ich, dass er nie und nimmer mein Vater ist. Von den Eltern und Geschwistern meines Stiefvaters wurde ich einfach übersehen; für sie eine Peinlichkeit, dass die Frau des Sohnes und Bruders sich mit einem Russen eingelassen hatte. Ich spürte deren Ablehnung von Anfang an.
Später, wenn ich mit anderen auf der Straße spielte, wurde ich oft Mobbing-Opfer von Älteren, die mich einfach nur als Russenkind sahen und mich ausgrenzten und für dumm hielten..
Bei Gleichaltrigen hatte ich dieses Gefühl seltener, aber auch die waren von ihren Eltern zur Vorsicht ermahnt worden, auf dass unsere Kontakte ja nicht zu eng würden.
Zu Beginn der Pubertät fingen die Fragen an meine Mutter und meine Großeltern an: Wer ist mein Vater? Mein Großvater gab mir schließlich einen Tipp: „Überleg mal, warum Du in der Schule so gut in Russisch bist.“
Erst als ich etwa 15 war erklärte mir meine Mutter in lapidarer Kürze, dass er russischer Soldat war und bei meinen Großeltern zusammen mit Kameraden einquartiert war.
Irgendwann habe ich dann meinen Großvater „gelöchert“; und ihm verdanke ich so gut wie alle Informationen, die ich über meinen Vater habe.
Mein Wissen habe ich doch immer für mich behalten müssen, aus Angst vor Ausgrenzung und Verachtung. Für mich wurde die Schule ziemlich die einzige Möglichkeit sich zu profilieren.
Mein Stiefvater hat mich einfach immer klein gehalten. Und ich musste mich ja auch dankbar zeigen, dass ich auch von seinem Einkommen lebte.
Nach der Schulzeit habe ich dann auf eigenen Wunsch Russisch studiert. Im Gegensatz zu vielen mochte ich die Sprache und sie fiel mir relativ leicht.
1972 kam ich auf recht abenteuerliche und riskante Weise in den Westen. Mit großem Erstaunen erlebte ich, dass mein Schicksal meist großes Interesse und Verständnis bei denen fand, denen ich von mir erzählte. Ich wurde irgendwie als Exot anerkannt und auch respektiert.
Schließlich wandte ich mich 1984 an den Suchdienst des Roten Kreuzes mit der Bitte um Auskunft über den Verbleib meines Vaters und bekam vom Sowjetischen Roten Kreuz die Nachricht, dass er zwei Jahre vorher verstorben war. Die Zeilen des Roten Kreuzes in Moskau waren freundlich und warmherzig, einschließlich einer Beileidsbekundung. Auf Rückfrage beim Deutschen Roten Kreuz wurde mir erklärt, dass weiterführende Auskünfte nicht die Aufgabe dieser Organisation seien.
Mehr durch einen Zufall sah ich erst jetzt im Fernsehen einen Bericht über „Russenkinder e.V“. Ich wandte mich an dessen Vorsitzenden in Berlin, der mir schon nach kurzer Zeit dank meiner relativ präzisen Angaben ein Jugendbild meines Vaters in Zivil aus dessen Militärakte in Podolsk präsentieren konnte.
Meine Hoffnungen konzentrieren sich jetzt darauf, durch weitere Recherchen herauszufinden, ob und wo ich Geschwister in Russland habe. Vielleicht entstehen in naher Zukunft ganz neue verwandtschaftliche Beziehungen. Darauf freue ich mich und bin ganz gespannt.
Eckhard März 2021